Harvor Bay – Kapitel 29

05.12.2020

Bull kam zu uns und legte Derek seine Hand auf die Schulter. Er sah den Jugendlichen eine Weile an. Seine Augen begannen zu glitzern und etwas lag in ihnen, dass mein Herz in kleine Teile zerbrechen ließ. „Auf keinen Fall. Wenn du das Mittel nicht willst, okay. Aber zumindest ich lasse dich nicht allein sterben.“

Mein Blick richtet sich auf Bull. Er hatte recht. Wenn Derek mich so bat, konnte ich schlecht nein sagen. Doch Bulls Variante gefiel mir besser. Auch ich wollte Derek nicht allein lassen. Es kam mir so falsch vor, wie nichts anderes. Die Sache war auch so schlimm genug, ohne den Gedanken, dass er ganz allein war. Das musste er auch nicht. Wir waren doch genau hier.

Derek nahm diese Variante für sich an. Es brauchte zwar etwas Zeit und Überzeugung, aber er nickte schwach. Langsam legte er sich wieder komplett hin. Tamara sah traurig auf den Jugendlichen herunter. Sie rückte näher an mich heran. Als sie sich zu mir lehnte, war ihre Stimme ganz leise. Nur der Hauch eines Flüsterns. „Ich kann ihm das Mittel geben, wenn er schläft.“

Erschrocken sah ich sie an. Meine erste Reaktion wäre ein Nicken gewesen, aber das war nicht fair. Wenn Derek dieses Mittel nicht wollte, dann wollte er nicht. Es war seine Entscheidung und nicht unsere. Es wäre mir vorgekommen wie ein Verrat. So als würde ich ihm einen Dolch in den Rücken rammen.

Letztendlich konnte ich ihn auch verstehen. Er würde den Rest seiner Zeit leiden. Wenn er findet, dass seine Reise hier enden sollte, hatten wir nichts dagegen zu sagen oder zu tun. Das machte die ganze Sache noch schwerer. Am liebsten hätte ich Derek einen Idioten genannt. Ihn dazu gezwungen das Mittel zu nehmen. Doch ich konnte ihn verstehen. Würde es in seiner Situation auch nicht wollen. Außerdem, wer war ich über sein Leben zu entscheiden? Egal wie lange es noch gehen würde.

Ich schüttelte meinen Kopf. Hoffte, dass es genug war, damit sie verstand. Tamara nickte und damit war es beschlossene Sache. Derek würde morgen um diese Zeit bereits tot sein. Einfach so. Er war der Jüngste von uns. Und morgen würde er nicht mehr da sein.
Ich setzte mich näher an Derek heran. Er war ganz ruhig. Seine Hände hatte er locker neben sich zu legen. Langsam ob und senkte sich sein Brustkorb und die Augen hatte er geschlossen.

„Tut es weh?“ Ich wusste nicht, was mir diese Info bringen sollte. Aber es schien mir wichtig wenigstens zu fragen. Vielleicht wollte ich auch einfach nur meine Aufregung wegreden.

Er drehte seinen Kopf auf dem Boden. Sah mich mit den Augen so voller Leben an, dass ich schwer schlucken musste. Vielleicht wäre es mir leichter gefallen, wenn er wirklich krank ausgesehen hätte. Aber das tat er nicht. Er blinzelte und sah immer noch aus wie Derek. „Nein. Es ist als würde jemand ganz langsam, Stück für Stück, die Zeit anhalten.“

Ich griff nach seiner Hand. Auch wenn er aus meiner Gruppe derjenige war, den ich am kürzesten kannte, so wollte ich doch für ihn da sein. Dass er nicht alleine war, sollte er spüren. Er drückte meine Hand und grinste.

Mir wurde kalt. Ich konnte nicht einmal sagen warum. Es war ein kühler Schauer, der sich über meinen ganzen Rücken ausbreitete. Ich fröstelte und riss mich augenblicklich wieder zusammen. Das hier war einfach nicht der richtige Augenblick, um einzuknicken.
„Ihr wisst schon, dass ihr morgen vermutlich keine Zeit mehr habt mich nach drüben zu bringen, oder? Dann müsst ihr mit einer stinkenden Leiche leben.“ Derek gab ein trockenes Lachen von sich. Es ging in ein Röcheln über. Er schluckte und wurde bewusste, dass er so ein Husten unterdrücken wollte.

Tränen brannten in meinen Augen. Ich hätte ihn dafür am liebsten geschlagen. Doch konnte es nicht über mich bringen. Stattdessen drückte ich seine Hand fester und strich mit meinem Daumen über die Haut an seinem Handrücken.

Bull ließ sich neben mir nieder. Er seufzte tief und zuckte mit den Schultern. „Meinetwegen kannst du stinken so viel du willst. Gibt Schlimmeres.“

Bulls Blick war fest auf Derek gerichtet. Ich blickte zwischen beiden umher. Tamara stand an der Wand und verschränkte die Arme. Sie sah unsere kleine Gruppe an. „Was ist eigentlich im Bunker passiert? Anderson schlug mir ins Gesicht und schrie mich an, was mir einfällt euch anzustacheln.“

Eine Antwort fiel mir denkbar schwer. Dick stand wieder auf der Bühne. Aus seiner Kehle floss Blut, wie aus einem grausamen Wasserfall. Und meine Hand hielt den nächsten Menschen fest den ich langsam verlieren würde. Die beiden mischten sich mit meinem Kommilitonen und Jane. Sie bildeten eine Gruppe, die mich still anschuldigte. Sie hatten ja auch recht. Ohne mich wäre es nicht so weit gekommen. Aber ich hatte es auch nicht besser wissen können.

Bull erzählte ihr die Geschichte. Sein Gesicht wurde rot und etwas brannte darin. Es war, als würden Flammen darin hochlodern und einen Brand lostreten, den niemand löschen können würde. Es brannte so hell, dass ich die Wärme auf meiner Haut hatte. Es brachte etwas in mir zum Kochen. Noch ehe ich mich versah, wurden wir beide von diesem Feuer verschlungen.

Tamaras Gesicht änderte sich mit den Worten von Bull. Sie ließ die Arme sinken und ihre Mundwinkel wanderten nach unten. „Ich wusste nicht ob ich euch trauen kann. Ansonsten hätte ich euch gleich gewarnt.“

Sie drehte sich zur Wand und spielte mit einem der Reagenzgläser. Es klirrte hell in unser Schweigen hinein. „Der Mann betreibt eine Art Sekte. Hält sich für einen Gott, der regelmäßig Opfer braucht um zu existieren. Nach allem was ich weiß, hat er mich festgehalten um ein eventuelles Serum zu bekommen. Wollte es sicher für maximalen Ruhm und Gewinn verkaufen.“

Ich rieb mir mit dem Ärmel übers Gesicht und verstärkte meinen Griff um Dereks Hand etwas. „Warum hat er dich dann gehen lassen?“

Tamara drehte sich zu uns. „Ich habe nicht die geringste Ahnung.“
Wie sollte sie auch? Das machte überhaupt keinen Sinn. Aber er war auch vollkommen durchgeknallt. Wer weiß, was er sich von der ganzen Sache erhoffte. Oder was überhaupt in seinem schrägen Hirn vorging. Es war mir in diesem Moment auch vollkommen egal.

Es blieb still zwischen uns. Keiner traute sich ein Wort zu sagen. Wir taxierten uns nur ab und an.

Irgendwann setzte sich Tamara zu uns auf den Boden. Sie senkte den Kopf und legte die Hände in den Schoß. „Es tut mir leid um euren Freund.“

Wieder wurde es ruhig. Stundenlang, bis in die tiefe Nacht rührte sich nicht einmal einer von uns. Wir waren wie festgefroren durch die Ereignisse. Ich beobachtete die Schatten, wie sie langsam über den Boden krochen. Dereks Hand ließ ich nicht eine Sekunde los.
Es wurde noch ruhiger. Ich konnte meinen Finger nicht darauflegen warum. Einen Moment lauschte ich. Dereks Atem war leiser geworden. Er schien abzuebben wie das Meer. Ruhiger und immer ruhiger.

„Was passiert hier?“ Mit rasendem Herzen sah ich zu Tamara. Kalter Schweiß brach auf meiner Stirn aus und ich musste schwer schlucken.

Ihr Blick war noch immer nach unten gerichtet. „Seine Organe hören auf zu arbeiten.“
Diese Aussage ließ eine Urangst in mir aufsteigen, die ich so nicht kannte. Meine Hand umklammerte immer noch die seine. Ich richtete mich auf alle Viere auf und sah ihm direkt ins Gesicht. Derek lächelte. Er lächelte so selig, wie ich es ihm nicht zugetraut hätte. Er blinzelte mich an. „Schon okay, Bia.“

Tränen brannten stark in meinen Augen. Hinter meiner Stirn klopfte es. Mein ganzes Gesicht schmerzte. Ich mahlte mit den Zähnen und starrte in dieses junge Gesicht.
Neben mir beugte sich Bull über Derek. Ich gönnte mir einen Moment, um ihn anzusehen. Bulls Gesicht war wie in Stein gemeißelt. Es rührte sich kein Muskel darin. Doch seine Augen schäumten über von Bedauern. Dieser Anblick machte es mir nicht gerade einfacher.

Dereks Gesicht entspannte sich langsam. Es wurde leerer. Immer weniger von ihm war darin zu erkennen. Langsam schlossen sich seine Lider.

„Derek?“ Die Tränen brachen ihre Bahn und fielen auf sein T-Shirt. Machten das graue Oberteil an dieser Stelle dunkler. Der Fleck breitete sich immer weiter aus. Wurde größer und größer, ohne dass es jemanden störte.

Seine Stimme war nur noch ein Hauchen. „Ich bin noch da.“

Meine Kehle wurde enger. Machte mir das Atmen und Schlucken schwer. Ich klammerte mich an seine Hand, als könnte ihn das bei uns halten. Oder als würde es mir helfen.
„Zeigt es dem Mistkerl. Für Dick.“ Dereks Augen schlossen sich mit diesen Worten komplett. Sein Kopf fiel zur Seite. Doch seine Hand lockerte sich nicht. Sie hielt immer noch schwach meinem Griff stand. Hilfesuchend sah ich zu Tamara.

Sie hob den Kopf und sah mir betreten ins Gesicht. „Nur noch ein paar Minuten.“
Ich konnte es nicht glauben. Derek war ein paar Jahre jünger als ich. Wenn überhaupt sollte die ganze Sache umgedreht laufen. Ich sollte daliegen. Immerhin, war das alles meine Schuld.

„Wir machen ihm die Hölle heiß.“ Bull lehnte sich zu Derek vor und klopfte ihm auf die Schulter.

Ja das würden wir. Das war die einzige Möglichkeit, die wir hatten und wir würden sie nutzen.

Weinend hielt ich Dereks Hand, bis sie sich entspannte und auf den Beton fiel. Sie entglitt mir nur unfreiwillig, aber ich konnte nichts dagegen tun.

„Derek?“ Wimmernd legte ich meine Hände auf seine Brust. Ich legte meinen Kopf daneben und lauschte. Kein Herzschlag. Meine Rechte glitt über seinen Mund. Kein Atem. Trotzdem legte ich meine Finger noch an seinen Hals. Auch nichts. Er war fort. Für immer.

Bull legte einen Arm um mich. Ich ließ mich nach hinten auf den Hosenboden fallen. Ich hätte schon beim Anblick dieser beschissenen Tomaten nein sagen sollen. Ich hätte auf Bull hören sollen. Was war denn so schlecht daran gewesen von Haus zu Haus zu ziehen? Warum musste ich unbedingt sehen, ob das Gras woanders grüner war?

„Ich bringe ihn rüber.“ Bulls Stimme zitterte. Doch er stand auf und beugte sich zu Derek. Er stemmte den Körper vom Boden hoch und richtete sich auf.

Ich sprang auf die Füße. Mit dieser Sache würde ich Bull nicht allein lassen. Ohne ein Wort nickten wir uns zu und gingen die Treppe hinauf. Tamara folgte uns bis zur Tür und ermahnte uns vorsichtig zu sein. Doch wir wollten nur in das Haus nebenan. Derek seinen Wunsch erfüllen.

Still gingen wir den kurzen Weg und ich gab mein Bestes mich von Derek zu verabschieden. Mir noch einmal unseren Weg ins Gedächtnis zu rufen. Es fiel mir schwer. Denn wenn ich das tat, dann würde er für immer gehen. Ich würde die Sache für mich annehmen. Aber eine andere Wahl hatte ich nicht.

Wir betraten Tamaras Haus und hielten inne. „Wohin?“ Bull drehte sich zu mir.
Ich überlegte. Wo würden sie es abkaufen, dass wir hier gewesen waren? Aber letztendlich schien es egal zu sein.

„Ins Wohnzimmer. Lass ihn uns auf die Couch legen.“ Auch wenn es verrückt war, so wollte ich wenigstens, dass er es bequem hatte. Er sollte ein schönes Plätzchen haben.
Wir gingen ins Wohnzimmer und legten ihn ab. Er sah so hilflos aus. So verloren. Wie ein Waisenbündel vor einer Kirche. Der Anblick gab mir den Rest.
Bull stützte mich.

„Es war schön dich kennengelernt zu haben, Derek.“ Ich ging auf ihn zu und zog seine Jacke gerade. So sah es besser aus. Nicht dass das wichtig war.

Bull ging auf die Leiche zu. „Wir lassen den Mistkerl bezahlen.“

Und das würden wir.

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